Sep 042015
 

Photo: Katarzyna Buganik

Wo die Zeit mündet in die Ewigkeit

Das Institut erinnert an Wilfried C. Reinicke

Wilfried C. Reinicke fährt in einem roten Volkswagen mit seiner Nichte aus Berlin nach Crossen an der Oder. Ein ganz normaler Familienausflug – wäre der Fahrer nicht im Januar 1945 aus dieser Stadt seiner Kindheit gemeinsam mit seiner Mutter, seinem Bruder und einem aus Berlin evakuierten Kind geflüchtet. Die unfreiwillige Reise führte ihn zuerst nach Zepernik bei Magdeburg, von dort nach Wittstock an der Dosse. 1954 flüchtete er erneut. Diesmal zum Studium nach West-Berlin. Seitdem lebte Wilfried C. Reinicke an der Spree. Dort studierte er, gründete eine Familie und arbeitete als Ingenieur beim Forschungsinstitut der Deutschen Bundespost. Doch Zeit seines Lebens blieb er immer auch Crossener, der an der Mündung des Bober in die Oder aufgewachsen war.

Zu seinen Leidenschaften gehörte das Oeuvre des Dichters Klabund, der ebenfalls aus Crossen kam und im Berlin der Zwischenkriege ein bunter Hund war. Jahrelang bemühte sich Wilfried C. Reinicke um die Wiederentdeckung und Wertschätzung des Dichters und Vagabunden – in Berlin und Crossen. Denn in der 1945 von Polen besiedelten Stadt war die deutsche Geschichte der Stadt wortwörtlich zur Vergangenheit geworden. Die Altstadt um den Marktplatz, auf dem auch das Wohn- und Geschäftshaus der Familie Reinicke stand, war bei Kriegsende niedergebrannt worden und danach nicht wieder aufgebaut. Allein die große Leere inmitten der historischen Stadt unweit der Mündung des Bobers in die Oder erinnerte daran, was der Krieg zerstört hatte.

In seiner „Ode an Crossen“ schrieb Klabund ironisch über seine Heimatstadt: „Wo der Bober in die Oder/ Wo die Zeit/ Mündet in die Ewigkeit“. Doch das Gedicht wurde lange nicht mehr gelesen in Crossen an der Oder; inzwischen ist es auch ins Polnische übersetzt. Um die Leere auf dem Marktplatz symbolisch zu füllen, stellten die kommunistischen Machthaber ein Mahnmal aus Beton auf. Darauf der weniger ironische Verweis auf die Ewigkeit: „Wir sind gewesen, wir sind und wir werden sein.“ Gemeint ist die polnische Präsenz in der Stadt durch die 1000-jährige Geschichte. Wilfried C. Reinicke konnte darüber herzlich lachen. Er hatte den Kontakt zu seiner Heimat nie verloren und er hatte dennoch nie vor, die von der Flucht zerstörte Welt seiner Kindheit wieder herzustellen.

In den Jahren, in denen es ihm kaum möglich war, nach Polen zu reisen, setzte er sich immer wieder mit den organisierten Heimatvertriebenen auseinander, die eine romantisierte und auf die Deutsche Vergangenheit fokussierte Version der Geschichte pflegten. Immer wieder rief er in Erinnerung, dass die ersten Vertriebenen Crossens die Juden waren. Der 10. November 1938 wurde zu einem zentralen Datum in seinem Leben. Die nachträglich konstruierte Erinnerung an den Rauch aus der in Brand gesetzten Synagoge war für ihn präsent bis ins 21. Jahrhundert. Für ihn war sie Sinnbild seiner Stadt, deren Einwohner mit der Zerstörung selbst begonnen hatten und deren Gewalt sich zunächst gegen die eigenen Nachbarn gerichtet hatte, bevor sie selbst flüchten mussten.

Spätestens 1989 wurde das längst polnische Krosno für die ehemaligen deutschen Einwohner von einer Projektionsfläche wieder zu einer realen Stadt, die nur zweieinhalb Stunden mit dem Auto von Wilfried Reinickes zweiter Heimat Berlin-Lichterfelde entfernt lag. Er reiste nicht nur als Zeitzeuge für die an der Geschichte ihrer Stadt interessierten Krosnoer nach Crossen. Er war stets auch Zeitgenosse, der sich für die heutige Entwicklung ebenso interessierte wie für die Erinnerung an das verlorene Crossen. Er knüpfte neue Freundschaften und bemühte sich ausdauernd darum, Klabund posthum zum Ehrenbürger der Stadt zu machen – eine Ehrung, die ihm in der deutschen Stadt Crossen nie zugekommen war. Zu den Höhepunkten dieses Engagements gehörte eine deutsch-polnische Ausstellung über Klabund in Berlin und im Crossener Heimatmuseum, die Einweihung einer Büste im Gymnasium. Später folgte eine Bank, auf der man sich seither zu Klabund setzen kann.

Wilfried C. Reinicke konnte all das von Berlin aus nicht allein organisieren. Er schrieb immer wieder Briefe, verfasste Artikel und suchte nach deutschen und polnischen Gesprächspartnern. Die Liebe zu Crossen führte auch zur Briefpartnerschaft und Freundschaft mit Beata Halicka, einer polnischen Historikerin, die mit ihrer Familie in die Nähe der Stadt gezogen war und 2005 zur 1000-Jahrfeier eine zweisprachige Chronik der Stadt schrieb. Für Halicka war Wilfried C. Reinicke mehr als ein Zeitzeuge. Er trat als Akteur in Erscheinung. So hielt er zur 1000-Jahrfeier als Deutscher einen Festvortrag über Persönlichkeiten der Stadt Crossen.

Reinicke Fuchs – wie er sich selbst gerne nannte – schrieb gerne Briefe und reiste mit Freunden nach Crossen, um ihnen seine Heimat zu zeigen. Er besuchte die neuen Crossener Partner und wollte unbedingt bei der nächsten Klabund-Ehrung dabei sein. Und er reiste 2001 auch mit dem Institut für angewandte Geschichte nach Crossen, um vor Ort von seiner Kindheit zu erzählen. Das war für Studierende der Viadrina ein besonderes Erlebnis: Bei aller Leidenschaft für das Lokale, die jüdischen Einwohner von Crossen und den Dichtervagabunden war Reinicke auch ganz der Berliner Bürger, der sich selbstverständlich in seiner Nachbarschaft in Lichterfelde engagierte, die Geschichte dieses Berliner Ortsteils erforschte und eine Bürgerinitiative mit begründete zum Erhalt dieser Gartenstadt. Und er beteiligte sich aktiv an der Gemeindearbeit der nahen Johannes-Kirche. Am 15. Januar 2015 wurde er nach anhaltender Krankheit in Berlin beigesetzt. In der Gazeta Lubuska erschien zuvor eine Traueranzeige auf Polnisch. Zur Trauerfeier reiste eine Delegation aus Crossen an und ehrte Wilfried C. Reinicke mit der Verlesung einer Würdigung durch den Crossener Bürgermeister. Es folgten mehrere Kondolenzschreiben aus seiner Heimat. Und seine Nichte erinnert sich an die Reise mit dem roten Volkswagen und ihrem Onkel mit einem Lächeln auf den Lippen.

 

Felix Ackermann, Wilna

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